Mittwoch, 28. November 2007

Tonband-Terror

Ich liege auf meinem Bett und schaue auf die Uhr. Es ist 20:59 Uhr. Ich kann ihn noch nicht hören. Er wird doch nicht zu spät kommen?! Oder ist er schon durch und ich habe ihn verpasst? Aber das kann nicht sein! Ich habe ihn in den drei Monaten bisher jeden Tag gehört. Zwei Mal. Ich hasse ihn. Sobald ich ihn höre bekomme ich Ohrenschmerzen. Ich bekomme immer Ohrenschmerzen wenn ich mich ärgere.
Verdammt. Da ist er. Auf den Punkt genau um 21:00 Uhr. Er spielt Beethoven's "Für Elise" - dieser Perversling! Wo sind meine Ohrenstöpsel? Ich ertrage es nicht mehr. Ich halte mir die Ohren zu und warte, bis er bekommen hat, was er will und wieder verschwindet. Wenn ich einmal eine Autobiografie schreiben sollte, werde ich ihn darin verewigen. Mehr noch, ich werde sie nach ihm benennen: Mein Feind, der Müllmann!

Auf Taiwan wird der Müll jeden Tag abgeholt. Zwei Mal, einmal um 18 Uhr und einmal um 21 Uhr. Es gibt keine Mülltonnen, die Menschen bringen ihre Mülltüten persönlich zum Müllwagen. Nur wie soll man sich bei den Leuten bemerkbar machen? Woher sollen sie wissen, wann genau der Müllwagen in ihrer Straße ist? Die Herangehensweise an derart knifflige Fragen ist bei Taiwanesen eigentlich immer die gleiche: man guckt bei Deutschland ab. Und genau aus diesem Grund läuft es heute im taiwanesischen Waste Management genauso wie beim Rattenfänger von Hameln im 19. Jahrhundert. Man spielt eine liebliche Melodie immer und immer wieder und die Menschen kommen auf die Straße und geben dem Alles-Fresser, wonach es ihm gelüstet.
Nur ich sitze in meinem kleinen Kabuff und warte, bis der Spuk vorbei ist. Dieses ewige Gedudel treibt einen irgendwann in den Wahnsinn. Da muss dringend mal ein Unternehmensberater ran.

Dabei habe ich erst kürzlich kausale Zusammenhänge zwischen klassischer Musik und meinem Lernerfolg beobachten können. Und das ist in diesen Wochen besonders interessant: es standen nämlich Zwischenprüfungen an. An vier Prüfungsphasen im Jahr muss man sich erstmal gewöhnen. Ich bin ja nun schon ein paar Jährchen dabei und war mit Prüfungen zum Ende des Semesters eigentlich immer ganz zufrieden. Jedoch muss ich gestehen, dass das gar nicht mal so unclever ist, auch während des Semesters zum Lernen gezwungen zu werden. Und die Arbeitsweise taiwanesischer Studenten ist doch sehr bemerkenswert. Seit zwei Wochen findet man nämlich weder in den Restaurants noch in der Bibliothek einen Sitzplatz. Jeder Stuhl ist belegt mit einem Asiaten, der sich dutzende Bücher zur Examensvorbereitung aus den Regalen geschnappt und für den Rest des Tages auf seinem Tisch gebunkert hat. Der Clou: 80% der Studenten schlafen! Das ist kein Witz. Der Campus gleicht in diesen Wochen eher einem Zeltplatz als einer Bildungseinrichtung. Und die vielen Bücher werden nicht gelesen, sondern gestapelt. Schließlich weiß jedes Kleinkind: wie man sich bettet, so liegt man. Leider habe ich es versäumt, ein Foto davon zu machen. Aber in sechs Wochen sind Abschlussprüfungen, da werde ich das nachholen. Versprochen!

Neben dem erzwungenen Input haben Klausuren aber noch einen anderen Vorteil. Der Campus ist nämlich wie leer gefegt. Das klingt erstmal belanglos, gestaltet meinen Alltag aber entschieden einfacher. Ich kann Asiaten nämlich immernoch ledigliche wage auseinanderhalten. Letztens war ich vor der Bibliothek zum Lunch verabredet. Um Punkt 12 Uhr klingelt es zur Pause und die Leute strömen aus den Fakultäten in die Restaurants. Plötzlich wusste ich nicht mehr, wie mir geschieht: "War das nicht gerade meine Chinesisch-Dozentin? Und die beiden Mädels dort, die gerade zu mir herüber schauen. Sind das nicht meine Tutoren? Oder waren die größer? Ach, und da ist doch Nancy vom International Office, die mir bei meinem Visum geholfen hat. Oder doch nicht? Lächel ich sie jetzt an oder nicht? Nachher ist sie das gar nicht und hält mich für irgendeinen europäischen Perversen." Und während ich so in Gedanken schwelge geht jemand vorbei und sagt "Hey Toni!"...und ich erwidere "Hey ho!" und frage mich danach "Wer zum Teufel war denn das jetzt?"

Tja, aber das gehört wohl zum Studium in Asien dazu, genau wie Beethoven's Müllwagen (mein Gott, wenn der das wüsste...) und campuseigene Camping-Plätze.
Jetzt habe ich so viel (und doch so wenig) von meiner Uni erzählt, da gibts jetzt zur Belohnung auch nochmal ein muckeliges Fotoalbum mit Fotos vom Campus und von meinem Schulweg ;) .
Ohne Müllwagen, dafür mit viel Liebe zum Detail.

Ming Chuan Dà Xué

Ich vermiss Euch!